Kolkata – Es gibt Momente, in denen man den Geist des Ganges zu spüren glaubt. Die Mystik des heiligen Flusses der Hindus. Wenn Morgendunst die Konturen von Kähnen, Fähren und Molen weichzeichnet.
Wenn irgendwo am Ufer ein Holzstapel unter einem tuchumwickelten Leichnam zu rauchen beginnt. Wenn Fischerboote durch das verglühende Abendlicht tuckern. In solchen Augenblicken verdrängt man, dass der Ganges eine Kloake ist, eine Müllkippe.
Aber was heißt «der Ganges»? Der Fluss ist weiblich. Die Hindus sagen Mutter Ganga, eine Wassergöttin, Tochter des Himalayas, die sich den Weg von den Bergen der Götter bis zum Golf von Bengalen bahnt.
Wer sich dem Strom annähern, ihn ansatzweise verstehen möchte, kann sich an Bord der «Ganges Voyager» begeben. Die sechstägige Bootstour führt durch das ländliche Ostindien: Kurs Nord ab Kolkata, bekannt als Kalkutta, 350 Kilometer aufwärts bis Baranagar, und zurück.
Heiliges Wasser
Elf Stufen leiten vom Hauptdeck in den Schiffsbauch hinab zu Biswanath Ari, 28, zweiter Bordingenieur. Hier liegt sein Reich: der Maschinenraum. Früh morgens führt der tiefgläubige Hindu vor einem Holztempelchen sein Puja-Ritual durch: Gebete und Gesang. Das gebe viel Kraft für Seele und Körper, das reinige, sagt er.
In der Holzbox sind mehrere göttliche Darstellungen versammelt, darunter Ganesha. Ihnen bringt Biswanath zu frühester Stunde Blumengirlanden dar, Holzapfelblätter. Auch eine Orange, ein Apfel, eine Mango und ein Geldstück liegen vor dem Schrein.
Doch das Allerwichtigste, unterstreicht der Hindu, sei das heilige Wasser aus dem Ganges. Regelmäßig füllt er einen kleinen Krug auf und benetzt tropfenweise seinen Kopf und den Arbeitsplatz. «So fühle ich Mutter Ganga, sie steckt voll positiver Energie», sagt Biswanath.
Ein Fluss voller Müll
Die Verschmutzung des Stroms, speziell um den Millionenmoloch Kolkata, lässt sich nicht beschönigen. Plastikmüll dümpelt massenhaft vorbei, dazu Schaum- und Pflanzenteppiche und Kleintierkadaver. Ein paar Schritte weiter finden sich Menschen zu Morgengebeten ein, nehmen ihr Bad, waschen die Wäsche und sich selbst. Biswanath Ari scheut sich nicht davor, aus dem Ganges zu trinken, wie er erzählt. Die Kraft des Glaubens scheint über alle Keime erhaben zu sein.
Hinter Kolkata gewinnt das Grün zögerlich die Oberhand. Häuschen in farbigen Anstrichen, Hütten auf Stelzen und Schornsteine von Ziegelsteinbrennereien säumen das Ufer.
Heilige Kühe und lächelnde Kinder
Der Fluss beschreibt weite Schleifen, seine Breite pendelt zwischen etwa 100 und 200 Metern. Der Kapitän hält das Tempo auf zehn Knoten, umschifft Gras- und Buschinseln, nimmt auf der Höhe des Moscheekomplexes Hooghly Imambara Parkposition ein.
Das Beiboot bringt die Gäste an Land. Heilige Kühe weiden im Ufergras. Hooghly Imambara scheint seine besten Zeiten hinter sich zu haben, im Innern liegt reichlich Vogelkot auf dem Boden. Der Dorfspaziergang führt zu Kindern, die sich auf einem staubigen Feld abwechseln, um mit einem Holzknüppel und einem Hartplastikball Kricket zu spielen. Den Besuchern lächeln sie um die Wette entgegen.
Das Kino am Ufer
Das Städtchen Kalna lockt mit Kultur. Rikschafahrer treten in die Pedale und bringen Besucher vor den Hindukomplex der 108 Shiva-Tempel. In Nachbarschaft liegt eine noch weitläufigere Anlage mit dem Pratapeswar-Tempel und Terracotta-Ornamenten.
Zurück aufs Schiff. Der Ganges führt an indischen Kulissen vorbei, mal mehr, mal weniger exotisch: Palmen, Bananenhaine, Kürbis- und Reisfelder, Kanäle, Fischerboote. An Badestellen wirken die Gruppen von Frauen in farbenfrohen Saris fast wie Festgesellschaften. Leute winken überall und rufen Grüße über das Wasser.
Ein vergessener Name
Trubelig geht es zu im Hare-Krishna-Tempel von Mayapur – ein kuppelgekröntes, bislang unvollendetes Disneyland des Glaubens. Führerin Janaki erzählt, dass sie in der Hare-Krishna-Bewegung jene spirituelle Erfüllung gefunden hat, die ihr das Christentum in der deutschen Urheimat nicht bieten konnte. Ihren vorherigen Namen und ihr vergangenes Leben hat die aus Stuttgart stammende Janaki «abgestreift wie eine Schlange ihre Haut», wie sie berichtet.
In Matiari, der Stadt der Kupfer- und Messingbetriebe, klopft und hämmert es früh morgens allerorten. Dass sich in Hinterhofwerkstätten auch finstere Mienen binnen einer Sekunde aufhellen, wenn Auswärtige vorbeischauen, ist typisch für die hiesige Willkommenskultur.
Die Zeit fließt gemächlich dahin auf dem Fluss. Stromaufwärts wird das Wasser merklich sauberer, ein Delfin springt aus den Fluten. Der nördlichste Punkt der Reise ist Baranagar, wo sich die 1755 erbauten Char-Bangla-Tempel befinden. Mutter Ganga erblickt man dort als Relief, über einer Krokodildarstellung – ein Gangesgavial.
Am Ende der Reise bleibt die Frage: Hat man nun den Schlüssel zum wahren Verständnis des heiligen Ganges gefunden? Hand aufs Herz – eher nicht. Doch der Fluss hat die Besucher in entlegene Städte und Dörfer gebracht, wo sich Türen und Herzen geöffnet haben. Das kann man Mutter Ganga gar nicht hoch genug anrechnen.
Flussreise auf dem Ganges
Reisezeit: Am besten geeignet sind die Monate von September bis März.
An- und Einreise: Kolkata ist von Deutschland aus mit dem Flugzeug und einem Umstieg zum Beispiel in Neu-Delhi zu erreichen. Deutsche Staatsbürger benötigen für Indien ein Visum, das elektronisch beantragt werden kann (E-Visum). Es kostet 80 US-Dollar (72 Euro).
Schiff: Die 2014 gebaute «Ganges Voyager» ist 54 Meter lang, 12,5 Meter breit und fasst 56 Gäste. Es gibt 28 Kabinen mit Größen zwischen 24 und 37 Quadratmetern. Das Bordleben ist ungezwungen, es gibt keinen besonderen Dresscode. Deutsche Veranstalter wie Lernidee Erlebnisreisen bieten Flussreisen auf der «Ganges Voyager» an.
Fotocredits: Andreas Drouve,Andreas Drouve,Andreas Drouve,Andreas Drouve,Andreas Drouve,Andreas Drouve,Andreas Drouve,Andreas Drouve,Andreas Drouve,Andreas Drouve,Andreas Drouve
(dpa/tmn)